Wissen

wissen von dana berg


Gewisse Weisen des Denkens sind, genau wie die Atmung,
resistent gegen jegliche Art der Störung.
George Steiner


Zu Beginn wusste niemand etwas, dann wussten sehr wenige manches, schließlich wussten viele mehr und zuletzt wusste jedeR alles, irgendwie … zumindest … gefühlt. Es wurde berechnet, untersucht und statistisch prognostiziert. Denn Wissen, welcher Form auch immer, muss erst auf Gültigkeit überprüft werden. Das ist ein langwieriger und mühsamer Prozess, der niemals an ein Ende gerät, denn alles ist nur so lange wahr oder gültig, bis es schlussendlich widerlegt wird. Wissen ist also nur im steten Prozess zu haben und besser eine Sache der Rückschau und schlimmer noch, es kann jederzeit widerrufen werden, es ist fallibel.


Bei Lichte besehen, ist dies ein unzumutbarer Zustand, der in unserem privilegierten Alltag glücklicherweise unerheblich ist, denn wir dürfen von einem reichhaltigen und fundierten Wissenskredit leben, uns nach Lust und Laune aus dem Fundus bedienen, denn wir benötigen äußerst selten Wissen, das unser Leben radikal tangiert: Wir müssen die Schwerkraft nicht verstehen, um zu wissen, dass sie existiert.


Doch nun ist der Kredit aufgebraucht, wir sind ins Minus geraten, wir sind in einer Wissensnot, wir benötigen Wissen, das sich in Echtzeit akkumuliert. Nun zeigt sich, dass wir völlig außerstande sind, Wissensentstehung im Prozess zu begreifen, dass Erkenntnisse unter diesen Umständen durchaus befristet sind, dass es ein ungeheures Glück ist, dass sich Erkenntnisse und Theorien widersprechen dürfen, sich gar widersprechen müssen, auch dies ist ein Ideal unserer liberalen demokratischen Welt.


Das ist schwer auszuhalten, gewiss, denn wir wollen alle Antworten jetzt und sofort, auf Fragen, die wir – mangels Wissen – nicht einmal im Stande sind zu stellen. Obendrein sollen die Antworten wahr sein und zwar letztgültig. Wer sich irrt, bzw. wer seine Erkenntnisse nach dem neusten Forschungsstand revidiert, wird haftbar gemacht und wie die sprichwörtliche Sau durchs globale Dorf gejagt, dabei sollte uns eine revidierte Meinung Zutrauen in die Wissenschaft geben.


Freilich, es lässt sich nur unzureichend in Hypothesen leben. Das Leben wird zum Provisorium, wird selbst fallibel.


Worüber wir momentan verfügen, ist eine kaum überschaubare Anzahl von Einzelinformationen. Wir sind maximal informiert, wissen aber nix. So ist das eben. Macht nix. Obendrein wird ein hochkomplexes Wissen in immer kleinere Formate gepresst. Ich denke an Walter Benjamin, der das Zeitalter der Information mit gebotenem Argwohn betrachtete und eine „Verkümmerung unserer Erfahrungen“ vorhersah. Waren früher die nackten Fakten in (sinnliche) Geschichten (Kontext) eingebunden, erhalten wir diese nun unzusammenhängend und abstrakt, zur weiteren Verwertung. Ich erhalte Zahlen, jeden Morgen.


Ich verwerte Zahlenkolonnen, ich übe mich einer obszönen Arithmetik, ich zähle, ich versuche zu deuten, zu verstehen, jeden Morgen verzweifele ich. Es gelingt mir kaum, die Abstrakta in Wirklichkeit zu übersetzen. Mir fehlen die Geschichten. Ich scheitere, jeden Morgen. Habe ich gerade gelernt, warum sich Covid-19 nicht mit der Grippe vergleichen lässt, werde ich im nächsten Artikel bereits wieder mit dem Vergleich konfrontiert und kann mich kaum noch erinnern, warum dieser Vergleich hinkt. Ich lerne erneut das Wissen von gestern, dass den nächsten Morgen kaum überdauern wird. Ich erschöpfe mich an den Informationen. Ich lese, lese, lese die sogenannten Leitmedien, die sogenannten alternativen und correktiven Medien, letztlich Medien über Medien. Ich bin beängstigt, dass es Medien über Medien über Medien gibt, dass es Kontrollinstanzen geben muss, die unter großem Aufwand, das bereits akkumulierte Wissen wieder in den Kontext rücken, aus dem es just herausgerissen wurde. Alles wird zu einer Frage der Perspektive. Denn die verschiedenen Medien beziehen sich – mit unter – auf die gleichen Studien oder statistischen Werte, ziehen diese aber für unterschiedliche Ergebnisse, Prognosen heran. Ich muss genau sein, ich muss genauer lesen. Denn die gleichen Studien können je nach Deutungshorizont unterschiedliche Ergebnisse zeitigen. Kaum auszuhalten, wenn man bei Verstand bleiben will. Jeder und jede findet ihre Meinung bestätigt, Wissenschaft wird zur Auslegware. Falsch positiv. Mir fehlen die Geschichten.


Ich ängstige mich vor mir selbst, denn ich übe mich in einem steten Misstrauen und versuche mich zu wappnen gegen: Alles nur gefälscht und ehedem nicht wahr, Du Mitläuferin, Hörige, Idiotin! Meine innere Idiotin muss sich von Freund*innen die Frage gefallen lassen, ob ich mich schuldig machen möchte an einem autoritären Staat, der gerade erwächst, während ich mich fälschlicherweise um die Zahl der Toten bekümmere. Sieh Dir doch die Fakten an, alles wissenschaftlich belegt. Ich kontere und sage: Sieh Dir doch die Fakten an, alles wissenschaftlich belegt. Meine innere Idiotin muss verstehen, dass die Diskussion an ein Ende gelangt. Es ist keine Frage des Wissens mehr, sondern eine Frage des Glaubens.


Weder weiß ich hinreichend zu benennen was Wissen, noch was wahr ist. Mein kleines Leben ist voller Wissenskatastrophen, regelrechten Wissensverzweiflungen. Denn oft verwechsele ich Glauben mit Wissen, bzw. verhält es sich genau umgekehrt, ich erlerne ein Wissen, ich belese mich, um mit dem nächsten Buch schon festzustellen, dass es längst widerlegt ist. Ich lerne mich und meine Positionen zu relativieren, der Kritik auszusetzen und im günstigsten Fall, mein Wissen, das wohl eher meinen Überzeugungen, denn einem faktischen Wissen entspricht, wenn es falsch oder überholt ist, schlicht zu verabschieden, durch neues zu ersetzen und auf den nächsten Abschied zu warten. Adieu. „Zu denken heißt das Ziel verfehlen, heißt danebenliegen.“ (George Steiner)


Manchmal gelingt mir der Abschied leicht, manchmal halte ich verbissen und nostalgisch an meinen Überzeugungen fest, aus dem einfachen Grund, weil sie mühselig oder schwierig zu haben waren. Denken macht nicht nur traurig, es ist auch anstrengend. Ich liege dauernd daneben und frage mich, warum es mich so sehr bekümmert, wenn ich auch dieses Mal danebenliege. Eine Freundin sagt, wen schert es denn, wer richtig liegt, was ändert es. Ich enthalte mich lieber. Wir werden sehen.


Meine Freundin hat recht, die Antworten auf all unsere ungestellten Fragen wird erst die Zeit bringen, wenn es gut abgehangenes vergangenheitsgesättigtes Wissen gibt, eine Geschichte, über das, was uns momentan zustößt und wofür unser kleiner friedensgesättigter Verstand einfach nicht (mehr) gerüstet ist, dann lesen wir uns hoffentlich rückwärts und aufmerksam an unsere Gegenwart heran, um für die Zukunft besser gewappnet zu sein.


Wir werden sehen.


(nh)